Mittwoch, 2. September 2009

Auswirkungen der Sparmassnahmen im Sozialbereich

Stefan Kirchgraber, Sozialarbeiter FH, Fachstelle Integration Behinderung (FIB)

Auswirkungen der Sparmassnahmen auf das soziale Netz

Bedingt durch unser profitorientiertes Wirtschaftssystem, den internationalen, inner- und interkantonalen Steuerwettbewerb und die bürgerliche Politik sind die Sozialversicherungen wegen den damit verbundenen Sparmassnahmen der letzten Jahre stark unter Druck geraten. Dies hat sich auf verschiedenen Ebenen ausgewirkt.

Sozialpolitische Entscheide
Seit dem Jahr 2002 wurden einige wichtige sozialpolitische Entscheide gefällt, welche allesamt hauptsächlich wegen den Sparbemühungen angestrebt wurden: Herabsetzung des Sozialhilfe-Existenzminimums, Kürzung der Bezugsdauer bei Arbeitslosentaggeldern, Einschränkungen beim Bezug der Krankentaggelder, Wegfall der IV-Ehegattenrente, im Kanton St.Gallen Nichtausschöpfung des Budgets für Prämienverbilligungen und Kürzung der Ausserordentlichen Ergänzungsleistungen.

Auswirkungen bei Sozialversicherungen
Im Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Versicherungszweigen ging das Augenmass je länger je mehr verloren. So ist die Hürde bei behinderten Personen z.B. mit IV-Teilrente bezüglich Bewerbungsbestätigungen höher als bei gesunden Personen. Dies zeigt sich darin, dass die beim RAV gültigen Bemühungsnachweise von der Arbeitslosenkasse anerkannt werden, bei den Ergänzungsleistungen nicht ohne Weiteres.
Wegen nicht ausgeschöpftem Budgets für Prämienverbilligungen der Ausgleichskasse kam es zu völlig an praktischem Denken vorbeizielenden Regelungen. So ist es für kranke Personen im Kanton St.Gallen ohne eine langjährige Arbeitsunfähigkeitsprognose des Arztes nicht möglich, die Prämienverbilligungen aufgrund aktueller Einkommenszahlen zu berechnen, sondern nur gemäss Steuerausweis jeweils zwei Jahre im Nachhinein. Dies führt dazu, dass Personen mit krankheitsbedingten Einkommenseinbussen, welche knapp über dem Sozialhilfe-Existenzminimum leben, finanziell oft schlechter dastehen als Personen, welche auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das Gesetz kennen die wenigsten.
Besonders bezüglich IV gab es restriktive Veränderungen. Bei Erkrankungen, welche mit moderner Schulmedizin nicht objektiv bewiesen werden konnten, wurde früher im Zweifelsfalle eher zugunsten der Patientenschaft entschieden. Schon 2 Jahre vor Inkrafttreten der 5. IVG-Revision war dann das Gegenteil der Fall: Menschen mit Schleudertraumata, Bandscheibenvorfällen, Fibromyalgie und anderen Schmerzerkrankungen werden seither generell nicht mehr als behindert im Sinne der IV betrachtet. Die Leiden werden psychosomatisch erklärt, was in den meisten Fällen keine IV-Massnahmen auslöst(e).
Gerade bei obgenannten Erkrankungen wurde auf der IV-Stelle St.Gallen je länger je unsauberer zulasten der Versicherten gearbeitet. Dies bedeutet beispielsweise, dass Gutachten von Spezialisten, in welchen klar körperlich diagnostizierte Beschwerden beschrieben sind von der IV ohne Begründung willkürlich unter den Tisch gewischt wurden und somit die psychosozialen und psychosomatischen Erklärungsmuster zur Beurteilung herangezogen wurden.
Seit der Wiedereinführung des IV-Vorbescheidverfahrens 2006 ist der IV-Rechtsdienst aufgrund eines Entscheids der IV-Stelle St.Gallen erst bei einer allfälligen Beschwerde vor Gericht involviert. Somit passieren viel mehr Fehler, welche mit anderer Organisation vermieden hätten werden können bzw. vermieden werden könnten. Einfach vermieden könnten die Fehler, wenn die Sichtung der Akten durch den Rechtsdienst schon im Einwandverfahren geschieht.
Bei Beibehaltung der bisherigen Praxis bedeutet dies, dass das Recht regelmässig nicht eingehalten wird bzw. mangels entsprechender Instruktion nicht eingehalten werden kann. Im Auftrag der IV schreiben so zum Beispiel Ärzte Gutachten mit zum Teil zwanzig und mehr Seiten, in welchen trotzdem oft die rechtlich geforderten detaillierten und zur fairen Beurteilung nötigen Angaben fehlen und anschliessend von der IV nicht mehr eingefordert werden.
Besonders stossend ist, dass die IV-Stelle die nach Beschwerden vom Versicherungsgericht gemachten Weisungen zuweilen ungenau oder gar nicht umsetzt.
Dieser Zustand kostet die IV und den Sozialstaat generell viel Geld, noch mehr wenn auch in Zukunft nicht sauber gearbeitet wird und eine unter angeblichem Zeitdruck entstandene 6. IVG-Revision die Leute vor die Gerichte zwingt.

Folgen für Direktbetroffene und deren Umfeld
Das vermehrt unübersichtliche Hin und Her nach dem IV-Verfahren macht die Leute nicht gesünder, im Gegenteil, zusammen mit den oben erwähnten Fakten werden vor Allem psychische Leiden verstärkt. Bekanntlich gehen die Leute dann nicht weniger zum Arzt.
Direkt Betroffenen wird der letzte Nerv geraubt, sie verbrauchen zuviel Energie für Dinge, die nicht nötig wären. Ihnen wird damit die Möglichkeit entzogen, ihre Lage in Ruhe zu betrachten und eigenständig nachhaltige Perspektiven zu entwickeln.
Trotz IV-Ablehnung fühlen sich viele Betroffene nicht gesund und sind somit nicht für eine Arbeit vermittelbar. Menschen mit Behinderung haben auf dem Arbeitsmarkt grosse Schwierigkeiten eine Stelle zu finden. Häufig ist irgendwann der Gang auf das Sozialamt unumgänglich. Motivationsverlust infolge Perspektivelosigkeit, Verschuldung und Betreibungen, Familien- und Nachbarschaftsstreitigkeiten sowie Gewalttaten sind oft weitere Folgen.
Dazu kommen Konflikte auf Sozialämtern, Gerede im Dorf, die Verstärkung von Vorurteilen, Stimmungsmache gegen Randständige jeglicher Herkunft und entsprechende repressive Politik.
Einzige objektiv gesehen positive Effekte der Sparmassnahmen scheinen zu sein, dass einige Personen wegen des damit erzeugten Drucks einen ‚Anreiz’ haben, sich per Arbeit zu integrieren und vermehrt auf Beratungsstellen und in den Familien über Integrationsthemen gesprochen wird, wie beispielsweise über rechtlich finanzielle Unabhängigkeit trotz Zusammenleben mehrerer Generationen in derselben Wohnung. Eine wirkliche Lösung im Zusammenhang mit den Sozialversicherungen ist dies jedoch nicht.

Organisationen der Sozialarbeit
Oft melden sich Betroffene bei den Fachstellen zu einem Zeitpunkt, in welchem die Situation so vertrackt ist, dass ihnen professionelle Sozialarbeitende nur noch Unterstützung in der Schadensbegrenzung anbieten können.
Bei Pro Infirmis wird ein Grossteil der vom Bundesamt für Sozialversicherungen bezahlten Lohngelder dafür gebraucht, IV-Entscheide zu prüfen und wenn nötig vor Gericht zu bringen.
Da die festgestellten Missstände bezüglich Umsetzung des IV-Gesetzes eklatant sind, ist es wichtig, dass die Bevölkerung weiss, wofür ihre Abgaben verwendet werden. Schliesslich ist es das Ziel von professioneller Sozialarbeit, sich erfolgreich überflüssig zu machen.

Gesamtgesellschaft
Die von der bürgerlichen Mehrheit bewusst forcierten Sparmassnahmen zwecks Steuererleichterungen für Wohlhabende schür(t)en Ausgrenzung, Fremdenhass, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Mobbing und gegenseitiges Misstrauen.
Dass dadurch die aktuellen und künftigen ökologischen und somit auch sozialen Herausforderungen nicht gemeistert werden können, liegt auf der Hand.

Alternativen
Es stellt sich die Frage, wenn sich gemäss bürgerlicher Logik schon alles ums Geld drehen soll, ob es nicht kostengünstigere Alternativen gäbe.
Existenzsicherndes Grundeinkommen ohne Arbeit inkl. medizinischer Grundversorgung für alle, kombiniert mit einem finanziellen Anreiz für gemeinnützige Tätigkeiten (z.B. für die aktuell nicht bezahlbare Schutzwaldpflege in Berggebieten) und Lohn für privatwirtschaftliche Tätigkeiten inkl. Versicherungsschutz.
An der ETH gibt es bestimmt genügend Personen, welche auf einen Auftrag des Staats warten, die Einsparungen im Vergleich zu den bisherigen Sozialversicherungs- und Sozialhilfeausschüttungen inkl. Löhne zu deren Bearbeitung sowie im Gesundheitsbereich zu berechnen.
Bis dies umgesetzt ist, können bestimmt auch Alternativen zum Steuerwettbewerb die bisherige Praxis ersetzen, entsprechende politische Mehrheit vorausgesetzt.